Die Wiedervereinigung

„Herein!“, tönte es aus Zimmer 375 des himmlischen Suchdienstes. Das Herz fasste sich ein Herz und trat entschlossen in den grossen Raum. Es wurde vom Teamleiter der Abteilung Ost mit einem warmen Lächeln empfangen. „Verraten Sie mir doch bitte Ihren Namen.“ „Ich bin das Herz.“ „Aha“, murmelte der Beamte und fächerte sich mit den Flügeln etwas frische Luft zu. „Und wie lautet Ihr richtiger Name?“ Das Herz zwinkerte seinem Gegenüber zu und antwortete schmunzelnd: „Man nennt mich auch Innerrhoden.“ „Und was führt sie zu mir?“ „Ich suche meinen Verstand.“ „Sucht seinen Verstand“, wiederholte der himmlische Beamte und trug die Aussage in ein Formular ein. „Sie werden von uns hören.“ Das Herz bedankte sich herzlich und verliess voller Vorfreude die himmlischen Gefilde durch das Ostportal.

 

Zur selben Zeit wurde im Westflügel der himmlischen Verwaltung der Verstand aufgefordert, das Büro 981 zu betreten. „Sie heissen?“ „Ich bin der Verstand.“ „Ihren richtigen Namen bitte.“ Der himmlische Sachbearbeiter der Abteilung West schaute etwas genervt auf seine Uhr. Ein wenig verlegen meinte der Verstand: „Sie sagen mir auch Ausserrhoden.“ „Und Sie suchen?“ „Ich suche mein Herz.“ „So so, Ihr Herz“, murmelte der Leiter der Abteilung West, „das wird schwierig werden“. Als er das betrübte Gesicht des Verstandes sah, setzte er schnell hinzu: „Aber wir werden es schon schaffen, keine Angst. Bisher haben wir noch alles gefunden, was wir gesucht haben.“ Er wünschte dem Verstand eine gute Heimkehr und entliess ihn durch die Westpforte.

 

Innerrhoden und Ausserrhoden kehrten nach Hause zurück und warteten gespannt, bis nach einiger Zeit die himmlische Erfolgsmeldung eintraf, mit der Aufforderung, sich zwecks Zusammenführung zum Stoss zu begeben. Auf dem Weg zum vereinbarten Ort klopfte dem Herz das Herz bis zum Hals und der Verstand drohte vor Aufregung beinahe den Verstand zu verlieren. Und als sich die zwei von weitem erblickten, konnten sie sich nicht mehr länger beherrschen, und sie rannten aufeinander zu, fielen sich in die Arme und drückten sich so stark sie nur konnten.

 

Engel Ulrich, der an dieser historischen Stätte unter dem Namen Ueli Rotach die Freiheit der Appenzeller gerettet hatte und extra für diese denkwürdige Wiedervereinigung auf die Erde geschwebt war, sprach alsdann mit ernster Miene die folgenden Worte: „Bleibt von nun an zusammen. Fühlt, denkt und handelt gemeinsam, als wäret ihr eins, von heute an ein Jahr. Dann sollt ihr befragt werden und das göttliche Gericht wird ein endgültiges Urteil sprechen.“ Überglücklich gingen das Herz und der Verstand Hand in Hand des Weges und versprachen einander, sich nie mehr zu trennen.

 

Die Monate vergingen und kurz vor Ablauf der Frist erhielten die beiden eine Einladung in die himmlische Zentrale. Sie wurden von Engeln würdevoll empfangen und zur Befragung in den grossen goldenen Saal geleitet.

 

Der göttliche Gelehrte, der sie empfing, wandte sich an den ausserrhodischen Verstand: „Nun berichte mir von deinen Erfahrungen, die du mit dem innerrhodischen Herzen während des letzten Jahres gemacht hast.“ „Ach, es war ganz ok, nur...“ Er stockte. „Nur?“ „Es hält sich nicht an Vorschriften, und dann dauernd diese Gefühle. Manchmal beginnt es zu singen. Dann werde ich ganz melancholisch. Und es schnalzt.“ „Wie bitte?“ „Es schnalzt! Wenn es Fragen mit Ja beantwortet, schnalzt es mit der Zunge. Und es ist so empfindlich.

 

Letzthin habe ich ihm ein paar unangenehme Fragen gestellt, und nun ist es beleidigt und spricht nicht mehr mit mir. Ach, ich weiss nicht, irgendwie habe ich mir das alles etwas anders vorgestellt. Ich glaube fast, ich wäre glücklicher, wenn ich wieder alleine wäre.“ – „Und nun zu dir. Erzähle mir, welche Eindrücke du im verflossenen Jahr vom ausserrhodischen Verstand gewonnen hast“, forderte der göttliche Gelehrte das innerrhodische Herz auf. „Er ist eifersüchtig.“ „Wieso das?“ „Vieles, das ich besitze und in die Beziehung gebracht habe, hat man ihm vorher weggenommen. Und er ist immer so korrekt. Oft, wenn ich ein gutes Geschäft wittere, zögert er so lange, bis die Gelegenheit vorbei ist. Und er versteht meine Gefühle nicht. Manchmal, wenn ich traurig sein möchte und singe, regt er sich auf, weil er dann auch traurig wird. Also ehrlich gesagt, ich glaube fast, wenn ich wieder alleine wäre, würde es mir besser gehen.“

 

Nach langer Beratungszeit, in der die Aussagen der zwei Zusammengeführten genau ausgewertet wurden, erschien endlich ein himmlischer Oberrichter in festlicher Robe. Er entrollte eine pergamentene Schrift, betrachtete die beiden mit einem letzten prüfenden Blick und sprach dann mit leicht bebender Stimme: „Es ergeht folgendes Urteil: Es sei euch erlaubt, euch wieder zu trennen. Jeder lebe von nun an wieder für sich, aber im Wissen, dass er nur ein Teil des Ganzen ist. Achtet und respektiert euch. Bleibt euch stets freundschaftlich verbunden und kommt zusammen, wann immer es nötig ist.“ Er hob den Kopf, breitete seine Arme aus und sagte dann mit göttlicher Erhabenheit: „Nun frage ich euch, wollt ihr das Urteil annehmen?“

 

Der Verstand dachte mit ernster Miene nochmals über das Ganze nach und sprach dann, nach einem tiefen Atemzug, ein feierliches Ja. Das Herz aber kniff mit einem verschmitzten Lächeln ein Auge zu und bestätigte das Gehörte mit einem freudigen Schnalzen.

 

Anita Glunk - 2013 - www.anitaglunk.ch