... denn sie können nicht stoppen, was sie tun.

Sie zucken, schreien, hüpfen, fluchen oder klatschen und fallen auf. Zuweilen ecken sie an: Menschen mit dem Tourette-Syndrom leben mit einer unheilbaren Krankheit, die nur wenige kennen und kaum erforscht ist.
Die 16-jährige Chiara Sommer* steht neben dem Schulpult und zuckt mit dem ganzen Körper. Mehrerer Male hintereinander. Kaum sind die Zuckungen vorbei, nimmt sie bedächtig, fast schläfrig, ihr Etui und ein Heft aus der Schulmappe. Doch plötzlich stampft sie etliche Male unkontrolliert mit ihren Schuhen auf den Boden. Bevor sie sich hinsetzt, schnipst sie mehrmals mit den Fingern.
Äusserlich fällt sie unter den anderen Jugendlichen der St. Galler Realschule kaum auf. Ihre kastanienbraunen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Einzige Auffälligkeit: ihr Kopf ist leicht nach vorne geneigt, der Mund meist offen.
Die Schulzeit – keine leichte Zeit
Chiara gehört zu den rund 4000 Menschen in der Schweiz, die am Gilles-de-la- Tourette-Syndrom leiden, kurz Tourette-Syndrom oder TS genannt. Knaben sind rund drei- bis viermal häufiger betroffen als Mädchen. Die Gründe dafür sind nicht bekannt. Beim TS handelt es sich um eine nervliche Störung im Hirn, die vielfältige motorische und vokale Tics auslösen kann. Die Schulzeit ist für Tourette-Kinder nicht einfach. Die Geräusche und Zuckungen können ihre eigene Konzentration und Schulleistungen beeinträchtigen, aber auch den Unterricht stören und sich damit auf die Leistungen ihrer Mitschüler auswirken. Nicht alle Lehrerinnen und Lehrer können gut damit umgehen. Schafft es eine Lehrperson nicht, in ihrer Klasse eine Atmosphäre zu schaffen, in der jeder den anderen respektvoll behandelt, führt es beim Tourette-Kind zu Stress und Anspannung. Und dadurch nehmen die Tics zu. Mit Respekt, Verständnis und viel Geduld.
Auch bei Chiara lief nicht immer alles rund. Die 16-Jährige hat nicht vergessen, dass sie in der 1. Klasse oft gehänselt, nachgeäfft, mit Gummis beschossen und sogar bedroht worden ist. Ihr Vater wünscht sich mehr Toleranz und Verständnis für Menschen und Verhaltensweisen, die von der „Normalität“ abweichen: „Entspricht ein Kind heute nicht den Normen, wird es gerne in Sonderklassen abgeschoben.“
Chiaras jetziger Lehrer kann gut mit ihren Tics leben. Er ist ihr sogar dankbar: „Ich habe im Umgang mit Chiara viel gelernt.“ Als sie vor zweieinhalb Jahren zu ihm in die Klasse kam, habe auch er nichts über die Krankheit gewusst. Zu Beginn fühlten sich viele in der Klasse von Chiaras Geräuschen gestört. Unterdessen zeigen die meisten Verständnis. Wenn die Symptome jedoch zunehmen, reagieren einige genervt und führen gar ihre schlechten Prüfungsnoten auf Chiaras Geräusche zurück.
Er hat dafür eine Lösung gefunden: „Sie schreibt die Prüfungen oft in einem separaten Raum. Stört sie überdies mit ihren Tics zu stark den Unterricht, darf sie für kurze Zeit das Klassenzimmer verlassen.“
Endlich: die Diagnose!
Die dreiköpfige Familie Sommer hat in den letzten neun Jahren viel erlebt. In der ersten Klasse zeigte Chiara immer häufiger ungewöhnliche Tics. Die Familie suchte einen Kinderarzt auf. Er und drei weitere Ärzte zeigten wenig Verständnis für die Sorgen von Chiaras Eltern. Vater und Mutter wurden gar aufgefordert, sich selber von einem Psychiater behandeln zu lassen. Die beiden suchten unbeirrt weiter nach den Ursachen des auffälligen Verhaltens ihrer Tochter.
Der fünfte Arzt gab Chiaras Grimassen und Zuckungen endlich einen Namen: Tourette-Syndrom. Einer der wenigen europäischen Tourette-Experten ist Aribert Rothenberger, Direktor der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie an der niedersächsischen Universität Göttingen. In einem Fachartikel schreibt er über Tic-Störungen: „Das TS ist eine medizinische Störung, die der Patient weitgehend nicht unter Kontrolle hat. Charakteristische Kennzeichen für Tics sind plötzliche, zumeist schnelle, aber nicht rhythmische motorische Bewegungen oder Lautäusserungen, die sich häufig serienartig wiederholen.“
In einem Artikel Rothenbergers beschreibt ein Tourette-Junge es auf seine Art: „Wenn du Tourette hast, ist es so, als hättest du einen Vulkan in dir und weisst nie, wann er ausbricht.“
Ausbruch im Kindesalter
Gemäss Aribert Rothenberger treten die ersten motorischen Tics (Box) meistens um das siebte Lebensjahr auf. Einfache vokale Tics (Box) beginnen meist zwischen acht und fünfzehn Jahren. Vom TS wird gesprochen, wenn mindestens zwei motorische sowie ein vokaler Tic vorhanden sind, die vor dem 21. Lebensjahr auftreten und länger als ein Jahr dauern. Nach den wenigen Erkenntnissen, die man über das TS hat, sind die Symptome in der Vorpubertät (zehntes bis elftes Lebensjahr) am stärksten ausgeprägt. Bei rund einem Drittel der Patienten verschwinden die meisten Tics nach der Pubertät, rund siebzig Prozent müssen lernen, ein Leben lang damit umzugehen.
Ob Tics behandelt werden müssen, hängt davon ab, wie der Patient damit umgehen kann. Verursachen sie Probleme im Zusammenleben mit der Familie oder im Umfeld von Schule, Beruf und Freundeskreis, sollte der Betroffene unbedingt behandelt werden.
„Was fühlst du, Chiara?“
Chiaras Eltern bemerken viele der stetig wechselnden Tics nicht mehr. „Es gibt aber Momente, in denen wir gewisse Zuckungen und Laute einfach nicht mehr sehen und hören mögen. Dann schicken wir sie in ihr Zimmer“, erklärt die Mutter. Chiara ist ihren Eltern deswegen nicht böse. Sie versteht und respektiert deren Wunsch.
Mit den Eigenarten seiner Tochter kann Vater Sommer leben. Er leidet aber darunter, dass er mit seiner Tochter kein tiefgründiges Gespräch führen kann. Traurig meint er: „Meine Tochter zeigt auch kaum Gefühle wie Freude, Angst und Trauer.“ Chiara widerspricht ihm nicht. Er schaut sie an und fragt sie fast beschwörend: „Was fühlst du, Chiara? Bitte sag es uns, wenn du traurig bist oder Probleme hast. Rede mit uns!“ Chiara erwidert seinen Blick, antwortet ihm aber nur mit einem Lächeln.
Ein Suchen ohne Ende
Das TS ist eine Krankheit, die in der Schweiz kaum bekannt und wenig erforscht ist. Bei einer Rate von fünf Fällen auf 10'000 Menschen mit behandlungsbedürftigem TS, erstaunt es nicht, dass die Forschung nach einem geeigneten Medikament bei der Pharma-Industrie nicht an erster Stelle steht. Eine Diagnose fällt zudem oft schwer, da die Symptome vielfach von weiteren Auffälligkeiten begleitet sind. Das können Schlafstörungen, selbstverletzendes Verhalten, Zwangsstörungen, Autismus oder die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sein.
Auch bei Chiara haben die Ärzte neben dem Tourette-Syndrom eine ADHS diagnostiziert, was sich bei ihr mit einem unbändigen Hunger nach Aufmerksamkeit zeigt. Verändern sich bei ihr Gesundheitszustand oder Zwänge stark, sucht der Kinderpsychiater in Absprache mit Chiaras Eltern nach einem neuen Medikament. Ob es dann das Richtige ist, zeigt sich meist erst nach einer gewissen Zeit.
Im dunklen Nichts
Unvergessen bleibt für die Familie Sommer die Zeit, als sich das Tic-Repertoire von Chiara täglich änderte. Für die Eltern bedeutete dies, jeden Tag eine neue „Wundertüte“ anzutreffen. Am schlimmsten war es, als sie in der sechsten Klasse plötzlich begann, sich zu schütteln. Innerhalb von zwei Wochen wurde selbst das Essen zur Tortur. Das Schütteln beherrschte ihren Körper, ihren Tagesablauf. Die ganze Familie war überfordert. „Es war so, als ob wir ins dunkle Nichts laufen würden“, schaudert die Mutter noch heute.
Sie entschieden sich zusammen mit ihrem Hausarzt für eine Art Schocktherapie. Sie rissen Chiara aus ihrer vertrauten Umgebung und brachten sie ins St. Galler Kinderspital. Eine Woche lang beobachteten die Ärzte das Mädchen und informierten sich gleichzeitig in Deutschland und im Unispital Zürich über das TS. Zusammen mit den Fachpersonen haben sie nach dem richtigen Medikament und der passenden Dosierung gesucht. Ihre Mitschüler besuchten sie jeden Tag und brachten ihr die Hausaufgaben. In der fünften Woche ging sie wieder zur Schule, kehrte aber abends zur Beobachtung ins Krankenhaus zurück. Danach war die schwierige Phase überstanden.
Leben mit den Tics
Familie Sommer sitzt im hellen Wohnraum am runden Esstisch. Chiaras Antworten sind kurz. Sobald ihre Konzentration nachlässt, macht sie mit ihren Lippen ein Sauggeräusch. Zwischendurch schiessen ihre Hände wie ein Hammer nach vorne und tanzen auf und ab. Neben den leisen Mundgeräuschen gibt es aber auch Tics, die ihre Nachbarn nicht wirklich mögen: ihr lautes Stampfen am frühen Morgen. Seit die Eltern ihre Nachbarn über die Krankheit ihrer Tochter aufgeklärt haben, zeigen sie jedoch grosses Verständnis.
Die Frage, ob sie es merke, wenn sie „tict“, bejaht Chiara ohne zu zögern. Es fühle sich an wie ein Kribbeln. Sie könne die Tics unterdrücken, wenn sie es wolle: „Dann fühle ich mich aber wie in einer Ritterausrüstung, aus der ich raus will, aber nicht kann.“
Die Familie hat seit der Diagnose ihr Leben grundlegend verändert. Ihr Tagesablauf ist strukturiert und durchgeplant. Diese Strukturen sind nötig, weil alles, was den normalen Rahmen sprengt, die Häufigkeit und Intensität von Chiaras Tics verstärkt. Dazu gehört auch die Vorfreude auf einen Besuch, ein bevorstehendes Klassenlager, Ferien oder die Aufregung vor einer Schnupperlehre. Deshalb informieren die Eltern Chiara vor speziellen Ereignissen erst kurz vorher.
Markus Sommer kommt auch auf die Gefahr zu sprechen, sich als Ehepaar auseinander zu leben: „Alle Gedanken und Handlungen kreisten zu Beginn nur noch um Chiara. Bis uns bewusst wurde, dass wir auch unsere Partnerschaft pflegen müssen.“ Während drei bis vier Jahren waren beide aktiv in einem Tanzklub und nahmen regelmässig an Show-Auftritten teil.
Heute reservieren sie sich wöchentlich einen gemeinsamen Nachmittag oder Abend und gehen häufig zusammen mit ihrem Hund Feivel spazieren.
Ein Teenie wie (fast) alle
Chiara ist enttäuscht. Die Berufsberaterin der Invalidenversicherung hat ihr vor ein paar Tagen erklärt, dass sie ihren Wunsch-Beruf, medizinische Praxisassistentin, eher nicht erlernen könne. Mit ihren Zuckungen sei es nicht möglich, Spritzen zu verabreichen. „Aber ich kann meine Tics doch unter Kontrolle halten“, meint sie leicht rebellisch. Chiara beginnt nun nach der Sommerpause das zehnte Schuljahr. „Sie müsste sich etwas mehr um ihre Zukunft bemühen. Sie erwartet, dass wir alles für sie erledigen“, meint ihr Vater und hofft, dass sie in diesem zehnten Schuljahr reifer und selbständiger wird.
Wenn sie mit ihrer Freundin Milena unterwegs ist, sorgt sie sich nicht um ihre Zukunft. Sie wirkt ungezwungen und selbstbewusst. Bei ihrem Treffen am Bodensee schlendern die beiden der Seepromenade entlang. Sie reden über die letzten Todesfälle und Liebschaften aus der TV-Serie „Wege zum Glück“, fachsimpeln über das Herunterladen von Sendungen am Computer und erinnern sich an gemeinsame Ausflüge. Die um ein Jahr jüngere Milena bedauert, dass Chiara nicht ins Blauring-Pfingstlager mitgeht: „Mit dir wäre es viel lustiger.“ Chiara lenkt sie ab: „Komm, wir halten unsere Füsse ins Wasser“, sagt sie, zieht Schuhe und Socken aus und krempelt ihre Hosen hoch. Das Wasser ist kalt, Milena zögert. Aber Chiara strahlt sie so überzeugend an, dass auch sie ihre Füsse im Bodensee badet.
Als Milena später ein Gänseblümchen pflückt und die Blütenblätter abreisst, lächelt Chiara und flüstert: „Ich weiss, an wen du jetzt denkst. An jenen von der Bushaltestelle, nicht wahr?“ Milena nickt. Darauf wirft sie die halb gezupfte Blume weg, als ob sie beim Küssen ertappt worden wäre. Damit ist das Thema Jungs abgehakt. Beide haben keinen Freund und wollen auch keinen. Sagen sie. Chiara findet die Jungs in ihrem Alter sowieso zu kindisch.
Plötzlich entdeckt sie auf ihrer grauen Jacke gelben Blütenstaub. Trotz mehreren Versuchen, ihn abzuwischen, bleibt er am Ärmel haften. Sie wird nervös. Mehrmals zuckt sie heftig mit den Armen und ihrem Oberkörper. Als sie merkt, dass der Staub durch Ausschütteln fast verschwindet, beruhigt sie sich wieder. Milena kennt die Tics ihrer Freundin. Sind sie zusammen, zeigt Chiara jedoch kaum welche. Und wenn doch, stören sie Milena nicht. Sie ist schliesslich ihre Freundin.
Nicoletta Hermann - 2008

Wenn einer aus der Reihe tanzt,

ist die Reihe besser zu sehen.

Das Außergewöhnliche, Andersartige und Besondere

gehört unabdingbar zum Leben

und macht es erst

lebbar - lebendig!

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... denn sie können nicht stoppen, was sie tun.
Die Reportage über das Tourette-Syndrom im PDF-Format.
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